Mit dem Marquis de Sade die Sonne angreifen

28.10.2014 13:42

Gustave Courbet - Trägheit und Wollust

„Einige Werke und Dokumente können den Besucher schockieren!“. Diese für ein Museum eher ungewöhnliche Warnung ist vor den Eingangstüren zur Ausstellung „Sade. Attaquer le soleil“ / "Sade. Die Sonne angreifen" im Pariser Musée d'Orsay zu lesen. Zu sehen gibt es einige der atemberaubensten Kunstwerke der aufgehenden Moderne. Ein neues Lust- und Gewaltbild in der Malerei, das seine Inspiration in der libertären Lebenshaltung des Autors von „Die 120 Tage von Sodom“ oder "die Philosophie im Boudoir" gefunden hat. Die Mega-Werkschau mit rund 500 Arbeiten von de Goya, Ingres, Rodin, Pablo Picasso, Max Ernst, Hans Bellmer und vielen anderen findet zum 200. Todestag des Marquis de Sade (am 2. Dezember) statt und soll bis zum 25. Januar 2015 der neugierigen und sittlich reifen Öffentlichkeit präsentiert werden.

 

 

Francisco de Goya bildet Kannibalen ab, die ihre Opfer vorbereiten; Gustave Courbet zwei nackte, eng ineinander verschlungene Frauen wie in einer erotischen Liebesnacht; Paul Cézanne einen Mann, der auf dem Bett eine Frau erdrosselt; Auguste Rodin eine Frau, die sich selbst zu befriedigen scheint. Alles hochdramatische Werke von den genialsten und sinnlichsten Künstlern überhaupt, auf denen Obzession, Rausch, Triebhaftigkeit und Lust weitgehend von ihren religiösen, mythologischen oder historischen Motiven befreit sind. Nicht ein ästhetisch oder sakral verbrämter Akt nach Art der Raffaeliten oder Victorianer, sondern der nackte, ungeschminkte existentialistische Akt, der Mensch in triebhafter Raserei oder im Taumel und Irrsinn seiner sexuellen und agressiven Gelüste.

 

Donatien Alphonse François de Sade (1740-1814) hat die Geschichte der Literatur und Kunst zunächst im Verborgenen revolutioniert, bevor er zu einer echten Legende wurde. Das Werk des "göttlichen Marquis" unterminiert auf radikale Weise die Fragestellungen nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, Verhältnismäßigkeit und Ausschweifung, die Konzepte von Schönheit, Hässlichkeit sowie des Erhabenen und der Wahrnehmung des Körpers. Es entledigt sich zur Gänze aller geltenden religiösen, ideologischen, moralischen und sozialen Auffassungen und Gebote, heißt es in der Ankündigung zur Ausstellung.

 

Grausamkeit und Einzigartigkeit des Begehrens


Laut der Analyse von Annie Le Brun, Spezialistin für das Werk von Sade und Gast-Kuratorin, beleuchtet die Ausstellung den Weg zur Revolution der Darstellung, der durch die Texte des Schriftstellers geebnet wurde. Die hervor stechenden Themen sind dabei die Grausamkeit und Einzigartigkeit des Begehrens, die Abweichung von geltenden Normen, das Extreme, Bizarre und Abartige, das Verlangen als Prinzip des Exzesses und der imaginären Neugestaltung der Welt.


Illustriert wird de Sade als Wegbereiter eines von Normen befreiten Bildes von Körperlichkeit, Begierde und Gewalt in der Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. „De Sade hat das 19. Jahrhundert dazu angeregt, das zu zeigen, was man noch nicht sagen konnte“, erklärt Laurence des Cars, eine der beiden Kuratorinnen der umfangreichen und hochwertig bestückten Ausstellung. De Sade hat seinem animalischen Eros freien Lauf gelassen, weswegen seine Bücher oft der Zensur unterlagen. „Wir haben aber keine Ausstellung gemacht, um zu provozieren“, betont Laurence des Cars.


Dass die erlesene Kunstschau, sowie manche der ausgestellten Werke, sicherlich zu Protesten und Diskussionen im Spannungsfeld der aktuellen Debatten um Homosexualität, Prostitution, Frühsexualisierung oder Pornografisierung der Gesellschaft führen werden, welche klerikale und von der Gender-Debatte infizierte Gruppen und Feuilletonisten (und -innen) gerne erstreiten, scheint indes ebenso sonnenklar, wie auch das Scheitern des Ikarus bei seinem Angriff auf die Sonne, viele Epigonen weißgott nicht davon abhielt, sich erneut in eine verbissene Attacke auf unser aller Lebensquelle und Triebkraft zu stürzen - unseren Eros.

 

Gewimmel nackter Männer und Frauen


Nicht alles, was mit der bildhaften Darstellung von Lust und Gewalt zu tun hat, wird auch ausgestellt. Man habe durchaus „Selbstzensur“ geübt und auf Werke zum Beispiel mit päderastischem Charakter verzichtet, präzisiert die Kunsthistorikerin. Der Promotion-Clip zur Ausstellung ist dabei aber schon einigermaßen provokant gelungen: Er zeigt ein erotisches Gewimmel nackter Männer und Frauen in einer ästhetischen und sinnlich-lasziven Gruppensex-Choreografie, die sich dann zu dem Wort 'Sade' formiert.


In der Literatur ist de Sade gemeinhin als Inspirationsquelle bekannt. Seine Werke wurden zwar verboten, doch waren zahlreiche illegale Drucke im Umlauf. Autoren wie Baudelaire, Shelley oder Huysmans beriefen sich auf den Verfasser von „Justine oder vom Missgeschick der Tugend“. In der Bildenden Kunst sei sein unmittelbarer Einfluss dagegen schwerer nachzuweisen. „Nur die Surrealisten erhoben de Sade zu einem ihrer Ahnen“, sagt die Kuratorin. Nach dem Beispiel des französischen Adligen forderten sie unbegrenzte Imaginationsfreiheit, Wunscherfüllung und die Macht der Fantasie.


„De Sade im Orsay-Museum. Warum nicht?“, schreibt Guy Cogeval, der Direktor der Pariser Institution in dem begleitenden Katalog zur Ausstellung. Das Orsay-Museum wagt es immerhin, eine Werkschau zu zeigen, auf die der Louvre in letzter Minute aufgrund der moralinsauren, grassierenden Sexismus-Debatte in Frankreich verzichtet hatte.

 

Öffnungszeiten des Musée d'Orsay in der Rue de la Légion d'Honneur 1, an der Seine gegenüber des Jardin des Tuileries, in 75007 Paris, sind Dienstags bis Sonntags von 9:30 -18 Uhr, Donnerstags bis 21:45 Uhr. Weitere Infos: www.musee-orsay.fr

 

 

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