Götter und Helden im Sprengel Museum Hannover

11.09.2011 14:10

Picasso - Minotaure et Bacchanale

Seit die Menschheit ihre Erinnerungen aufzeichnet und reflektiert, geht es immer wieder um Sex. Die Helden und Mythenwesen der Antike zeichnen sich aus unserer Sicht oftmals als sexuelle Draufgänger und leidenschaftliche Libertins mit ungezügelter Geilheit aus. Ob Zeus, Pan, Adonis, Bacchus, Aphrodite oder die Amazonen, um nur einige Stars der griechischen Antike zu nennen, sie alle scheinen ein unstillbares Verlangen nach Lust und Laster zu teilen. Aufgrund ihrer "Widersprüchlichkeit" und "Menschlichkeit" sind diese Vorbilder der Antike stets auch eine große Inspirationsquelle für moderne Künstler. Ein gutes Beispiel dafür bilden die Minotauren, die Picasso in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder zeichnete.

 

Wild und orgiastisch beugt sich das gehörnte Wesen über einen entblößten Frauenleib inmitten eines verschachtelten, verrätselten Bildes. Dieser muskulöse Minotaurus ist das Ursymbol der Triebhaftigkeit, eine Ikone der Potenz, eine Ausgeburt der Lust und ein Prototyp von Willen und Stärke. Zugleich wirken Picassos Stiermenschen oft ungemein zart, verletzlich und in ihrer ungestümen Art sehr menschlich. Nicht zuletzt hat sich der Meister in diesen Mischwesen auch selbst porträtiert – und die Ambivalenz der menschlichen Natur. Es geht eben um Leib und Seele. Nicht nur um den Sex.

Gleich mehrere Werke von Picasso sind jetzt in der Ausstellung „Götter und Helden“ im Sprengel Museum zu sehen. Es ist die erste von drei Ausstellungen, bei denen das Sprengel Museum, das Niedersächsische Landesmuseum und das Museum August Kestner mit gemeinsamen Faltblättern und einem gemeinsamen Begleitprogramm zusammenarbeiten. Den gemeinsamen Nenner haben die hannoverschen Häuser schnell gefunden, tief im Humus der abendländischen Kultur: Sie widmen sich den Mythen der Antike, die sich ins kulturelle Gedächtnis Europas so sehr eingeschrieben haben wie sonst vielleicht nur die Geschichten der Bibel.

Kuratorin Karin Orchard hat die Grafiksammlung und Archive des Sprengel Museums durchforscht und ist auf viele große Meister gestoßen, die ihre Seelenverwandschaft im Griechenland der Antike suchten. Max Ernst war von Mischwesen wie der Sphinx fasziniert. Max Beckmann schuf 1909 einen düsteren Zyklus von Lithografien über Orpheus. Beuys und Kokoschka, Miró und Braque, Grethe Jürgens und Eduard Bargheer, für sie waren die antiken Mythen wie ein Füllhorn an Motiven, aus dem sie sich begeistert bedienten.

Vom Impressionismus bis zur Pop-Art interpretierte jede Generation die alten Erzählungen neu. Die Geschichten wurden oft selbst wieder zu Projektionsflächen für neue Mythen. So entwarf Ossip Zadkine 1942 im New Yorker Exil einen Herakles-Zyklus, in dem der vermeintliche Superheld als seelenloser Würger auftritt, der wie im Gewaltrausch Löwe, Hydra und Zerberus besiegt. Eine Kampfmaschine als Allegorie auf den Krieg. Ein halbes Jahrhundert später schuf Niki de Saint Phalle eine farbige Sphinx als kraftvolle Frauenfigur, als Inbegriff befreiter Weiblichkeit. Und in den Siebzigern machte sich Timm Ulrichs über die Erhabenheit abendländischer Hochkultur lustig: Sein Werk mit dem Titel „Europa auf dem Stier“ zeigt eine Kuh, deren Flecken die Europakarte bilden. So kommentierte der Ironiker den allgemeinen Bildungskanon – als Melkmaschine und als Unwissenheit (über das wahre Geschlecht).

Manch antiker Held wurde gar als politischer Dissident in Dienst genommen: 1982 beauftragte der DDR-Kulturbund mehrere Künstler, eine „Prometheus-Mappe“ zu erstellen. Prometheus, als Überbringer des göttlichen Feuers an die Menschen, ein Freund der Gleichheit und des Fortschritts, also ein progressiver Sozialist, sollte wohl als Idealfigur des real existierenden Sozialismus vereinnahmt werden. Doch das war zur Zeit des Kalten Krieges und des Wettrüstens, und so fielen die Werke unerwartet kritisch aus: Bei Wolfgang Mattheuer wurde Prometheus zum Brandstifter, und Uwe Pfeifer ließ ihn als Che Guevara auf einem Panzer eine Feuersäule schwingen. Wen wunderts, dass die Mappe allzuschnell in den Archiven verschwand. Zum Glück für die staunende Nachwelt konnte das Sprengel Museum damals dieses rare Stück ergattern.

Die Formensprache mancher Bilder, die wenige Jahre alt sind, verstehen wir schon heute kaum mehr. In den Jahrtausende alten Mythen dagegen können wir uns immer noch wiedererkennen und spiegeln. Gerade weil diese so universell und wandlungsfähig sind, bleiben sie trotz aller Metamorphosen im Kern erhalten. Sie sind – auch das zeigt die tolle Ausstellung im Sprengel Museum Hannover - wie ein uralter Text, der immer wieder neu geschrieben und verziert wird.

»Götter und Helden. Nachleben und Eigenleben antiker Mythen in der Grafik« ist zu sehen im Sprengel Museum Hannover noch bis zum 19. Februar 2012.

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