Die Königin der Performance zelebriert die Kunst des Augenblicks

18.12.2012 15:32

Marco Anelli - Plakat "The Artist..."

Marina Abramovic, geboren 1946 in Belgrad, ist ohne Zweifel eine der einflussreichsten Künstlerinnen unserer Zeit. Schon zu Beginn ihrer Karriere in Jugoslawien während der frühen 70er-Jahre, wo sie die Akademie der Künste in Belgrad besuchte, hat Abramovic den Umgang mit Performances dahin gehend revolutioniert, dass diese durch Ästhetisierung und Inszenierung auch als eine Form visueller Kunst wahrgenommen werden können. Ihr Körper, den sie bis zum Äußersten strapaziert und einsetzt, hat dabei immer zwei Funktionen, er ist ihr Ausdruck und Subjekt als auch ihr Medium und Material. Bei den Erkundungen ihrer physikalischen und mentalen Grenzen hat sie dabei Schmerzen erlitten, Entbehrungen auf sich genommen und Gefahren getrotzt, die sie bei ihrem Streben nach Authentizität sowie spiritueller und emotionaler Transformation der Kunst jedes Mal äußerst leidensfähig auf sich nahm. Abramovic's künstlerisches Bestreben ist es, wie sie sagt, durch strenge Ritualisierung der normalen menschlichen Alltagshandlungen wie Schlafen, Träumen, Sitzen oder Lieben, einzigartige Bewusstseinszustände nicht nur für sich, sondern auch für ihr Publikum zu evozieren.

 

Als sehr agile Vertreterin einer Generation von Performance-Künstlern und Aktionisten in den 70er- und 80er-Jahren, wie Bruce Naumann, Vito Acconci, Chris Burden aber auch an die Wiener Aktionisten sei gedacht, entwickelte Marina Abramovic einige der berühmtesten Performance-Werke. Da war die satanistische Zeromonie mit dem Einritzen eines Pentagramms in ihrer Bauchdecke oder die inszenierte Trennung von ihrem langjährigen Freund und Performance-Partner Ulay auf der Chinesischen Mauer, nachdem beide von je einem Ende aus losgingen und sich nach zwei Monaten in der Mitte trafen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Performance- und Körper-Akteuren ist die jung gebliebene Künstlerin sich und ihrem Publikum treu geblieben und arbeitet vergnügt und konzentriert an neuen künstlerischen Lebenserfahrungen. 2000 war sie übrigens mit einer großen Schau auch im Kunstverein Hannover zu erleben, während sie eine siebenjährige Professur für Performance-Kunst in Braunschweig inne hatte.

Körper, Schmerz, Neugier und Humor

Im Jahr 2008 verlieh ihr der österreichische Bundespräsident das österreichische Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. „Die Leute, die das kriegen, sind meist achtzig Jahre alt, und ich bin erst 66“, sagt sie im Film. Ihr Gesicht mit den dalièsk geschwungenen Lippen, der markanten Nase und den weit geöffneten grau-grünen Augen erzählt nichts von ihrem Alter. Seit 2003 lebt sie in New York, ihr Englisch hat noch immer einen schweren serbischen Akzent. Sie lacht ihr gutturales Lachen und will am liebsten über Mode sprechen, die macht ihr zur Zeit großen Spaß.

Ihr Lebensthema ist der Schmerz. Die Kunst der Marina Abramovic kommt ohne Schmerz nicht aus. Man wisse nicht, was genug ist, wenn man nicht weiß, was mehr als genug ist, zitiert sie den englischen Dichter William Blake. Ihre Schmerzensszenarien, meint sie, zeigten dem Betrachter, wovor er am meisten Angst habe – vor Schmerz und Tod. „Ich sage dem Publikum damit: Wenn ich durch diese Schmerzen gehen kann, könnt ihr es auch.“ In den 70er-Jahren lag sie bei einer Performance in ihrer Geburtsstadt Belgrad in einem brennenden fünfzackigen Stern. Sie experimentierte mit Medikamenten, um gegen die Psychiatrie zu protestieren. Sie peitschte sich aus, ritzte sich einen Stern in die Bauchdecke, schrubbte auf der Biennale von Venedig 1997 blutige Rinderknochen. Mit dieser Performance, die sie „Balkan Baroque“ nannte, wurde sie international bekannt.

Auf ihren ausgedehnten Solo-Touren durch Europa seit 1988 (seit ihrer Trennung von Uley), saß sie später in den Berliner Kunst-Werken stundenlang auf einem Fahrradsattel nackt an der Wand, die Arme ausgebreitet wie eine Gekreuzigte. Klaus Biesenbach, Gründer der Kunst-Werke in der Auguststraße in Mitte, hatte Marina Abramovic damals geholt. Noch war sie ein Insider-Tipp. Es gab Tage, da konnte man als Besucher ganz allein mit ihr in der weiß getünchten Halle sein, umnebelt von Salbei-Dämpfen, die das Kirchen-Gefühl verstärkten. Biesenbach, inzwischen Chefkurator am MoMA, initiierte 2010 auch die große Abramovic-Retrospektive in New York, bei der ihre Performance ein Teil davon war. Im Film spielt Biesenbach eine Nebenrolle als Beschützer, Seelenfreund und Verehrer einer Künstlerin, von der er sagt, sie würde „niemals nicht performen“.

Präsenz und Energie-Transfer

Der Film "The Artist Is Present", 2010 von Matthew Akers, ist im Wesentlichen die Dokumentation der gleichnamigen Performance im Rahmen der großen Retrospektive, die das Museum of Modern Art (MoMA) in New York im selben Jahr veranstaltete. Drei Monate lang saß Abramovic damals auf einem Holzstuhl im Atrium des Museums, oft umgeben von hunderten von Zuschauern. Sechs Tage in der Woche, jeden Tag sieben Stunden lang. Schweigend, bewegungslos. Eingehüllt in ein langes Kleid, das Gesicht ungeschminkt. Jeder, der wollte, konnte auf einem Stuhl ihr gegenüber Platz nehmen. 750.000 Menschen sah sie während dieser Zeit in die Augen. Gegen Ende kampierten Besucher nachts vor dem Museum, um öffentlich mit „Marina zu sitzen“. Viele begannen vor ihr zu weinen, manche lächelten verklärt, niemals kam es zu Übergriffen. Nur eine Frau wurde abgeführt, nachdem sie versuchte, vor Abramovic ihre Brüste zu entblößen.

Die Gegenwart der Künstlerin elektrisiert die Atmosphäre, läßt sie vibrieren. Im Film kann man das sehen. Zwei Menschen sitzen einander gegenüber, und weil sonst nichts geschieht, passiert etwas, das Abramovic „Energie-Transfer“ nennt. Ihr Gegenüber empfing im Museum etwas, woran es ihm im Leben mangelt: ungeteilte Aufmerksamkeit. Einen Blick, der allein ihm gilt. „Bedingungslose Liebe“, sagt Abramovic dazu. Das Innehalten ohne jede Möglichkeit der Ablenkung lässt die Alltagsfassaden in sich zusammenbrechen. Deshalb rinnen so viele Tränen über die Gesichter. Alte Frauen weinen, halbwüchsige Jungs, Männer in Anzügen, junge Mädchen. „Ich sah so viel Schmerz, so viel Leiden. Sie leiden am Mangel an Liebe. Am Mangel an menschlicher Berührung. Die Gesellschaft in New York ist extrem brutal. Man lebt nur ein paar Blocks voneinander entfernt, man kennt sich, aber man trifft sich nicht mehr. Alle senden nur noch Messages.“

Im Film posiert sie einmal theatralisch für den Modefotografen Mario Testino. „Look“, sagt sie , und zückt ihr iPad. Unzählige Fotos hat sie darauf gespeichert, fast immer ist sie selbst darauf zu sehen. "Look, hier das Foto mit dem Givenchy-Chefdesigner Ricardo Tichy." Er an ihrer entblößten Brust. „Heißt es nicht, die Mode nährt sich von der Kunst? Na dann: Suck my tit.“ Sie kichert wie ein Mädchen und tippt das nächste Bild an.

Life and death of Marina Abramovic

Beide Eltern waren Nationalhelden, die im Zweiten Weltkrieg als Partisanen gegen die Deutschen gekämpft hatten. Der Vater war später General, die Mutter Majorin. Voriges Jahr hat Marina Abramovic dem Theaterregisseur Bob Wilson ihre Kindheitserinnerungen als Material für ein Stück zur Verfügung gestellt. „Life and death of Marina Abramovic“ heisst es. Die schrecklichste Episode darin: Das kleine Mädchen geriet mit seinem Arm in die Trommel der laufenden Waschmaschine. Die Großmutter rettete sie. Doch als die Mutter nach Hause kam, schlug sie dem Kind ins Gesicht, bevor sie es ins Krankenhaus brachte.

Obwohl sie litt, verharrte Abramovic bei der Mutter, bis sie fast dreißig war. Tagsüber studierte sie an der Kunstakademie, versengte sie sich die Haut in ihren Performances, doch abends um zehn war sie pünktlich zu Hause. Sie blieb lange die ewige Tochter, erst als sie den deutschen Künstlers Ulay kennenlernte, konnte sie Belgrad verlassen. Mitte der 70er-Jahre zieht sie mit Ulay nach Amsterdam, das Paar tritt nun gemeinsam auf, fünf Jahre lang führten sie ein Nomadenleben, das sie bis nach Australien, zu den Aborigines führte. Ihre letzte gemeinsame Performance hieß „The great wall walk“. Von entgegengesetzten Enden der chinesischen Mauer aus wanderten sie aufeinander zu. Bei der Begegnung trennten sie sich. Abramovic war damals vierzig geworden und fühlte sich am Ende. „Fett, hässlich, ungewollt.“ Sie flog nach Brasilien und ließ sich die Brüste vergrößern. Aus der alternativen Performerin, die bis Mitte vierzig „ein einfaches Leben“ führte, wurde eine elegante Erscheinung und eine erfolgreiche Künstlerin, deren Existenz bald auch durch diverse Professuren gesichert war.

Ulay gehörte zu ihren Ehrengästen im MoMA. Völlig unerwartet nahm er eines Tages ihr gegenüber auf dem Holzstuhl Platz. Nach ein paar Minuten reichten sie sich die Hände und weinten. Es war ein Hollywood-Moment, und das Publikum im Atrium klatschte. „Ich kann diesen Film nicht sehen“, sagt Marina Abramovic, „es ist so emotional.“

Quelle: www.http://marinafilm.com

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