Keule und Höhle - Vom Sex in der Steinzeit

14.03.2014 22:33

Venus vom Hohe Fels

Archäologische Funde wie 7000 Jahre alte Erotikfiguren in Sachsen und ein fast ebenso alter Lusttempel vom Bodensee, die Wände gestaltet mit Lehmbrüsten, entfachen immer wieder die Debatte über das Liebesleben in der "Steinzeit". Da nun einige der ältesten Artefakte mit erotischen Darstellungen, wie die vierzigtausend Jahre alte "Venus vom Hohe Fels" hierzulande ausgegraben wurden, möchte ich daher mit gutem Gewissen hoffen, dass vor allem in Mitteleuropa, wo die erotische Kunst einst ihren kreativen Ursprung gehabt hat, sie langsam wieder zu ihren Wurzeln zurück zu kehren scheint und sich ihrer eigenen Ars Erotica besinnt. Wie ist überhaupt die Kunst einst im Paläolithikum entstanden? Und wie hielt Homo Sapiens es mit der Liebe? Trieben es unsere Vorfahren so enthemmt wie die Bonobos? Oder wurde der Sex bereits in grauer Vorzeit schlecht geredet und durch Verbote und kultische Handlungen streng reglementiert?

 

 

Ein wohlgeformtes Gesäß, ein Penis kurz aber mächtig


Als ein Baggerfahrer im Erdreich bei Leipzig wühlte, um eine Gasleitung zu verlegen, stieß er auf eine 7200 Jahre alte Abfallgrube aus der Bandkeramik-Zeit, gefüllt mit dem Müll der ersten Ackerbauern Europas. Die hinzu geeilten Archäologen entdeckten bald einen 8,2 Zentimeter großen Torso im Boden. Beine, Bauch und Kopf fehlten zwar. Das Wichtigste aber war noch dran: Die Forscher vermeldeten ein "wohlgeformtes Gesäß" sowie einen Penis, "kurz, aber mächtig". Seit seiner Entdeckung im August 2003 sorgt der zersplitterte "Adonis von Zschernitz" im Landesamt für Archäologie in Dresden für gute Stimmung. So sorgfältig, wie der prähistorische Bildhauer die Gesäßfalte und die Muskelansätze doch formte! Der Hodensack und auch die Eichel sind deutlich zu erkennen. Wunderbar! Weltweit wurde noch nie ein so altes Tonmännchen entdeckt.

Beim Durchsieben der Abfallgrube kamen weitere Fragmente zutage. Eines der Teile, es reicht von der linken Wade bis zum Becken, gehört offenbar zu einer weiblichen Statue: Der ur-germanische Adonis hatte wohl eine Gefährtin. "Vieles spricht für eine Kopulationsszene", erläuterten die Forscher. Aus den Bruchstellen sei ersichtlich, dass der Mann mit leicht angewinkeltem Becken dastand. Die Frau davor beugte sich fast im 90-Grad-Winkel nach vorn. Auch der identische Maßstab der Figuren - beide waren ursprünglich knapp 30 Zentimeter groß - deutet an, dass sie zusammengehören.


Fruchtbarkeit und Fetischismus


Bislang waren erste von den Griechen - gemalte - Geschlechtsaktdarstellungen bekannt. Beim "Sex in der Griechischen Antike" geht es eindeutig zur Sache. Prostitution, Päderastie, Homosexualität und Sexorgien - die Alten Griechen hatten weit mehr als Philosophie im Sinn. "Von dieser Epoche an gab es Sex unabhängig von Fortpflanzung und Fruchtbarkeit", sagt ein Archäologe. Die Knabenliebe habe als Erziehungsideal gegolten. Der Liebhaber sollte den Geliebten in die Erwachsenenwelt einführen. Zeus war den Griechen ein Idol. Der stets potente Göttervater konnte es in jeder Position - selbst als Schwan oder Stier.

Jene griechischen erotischen Darstellungen sind aber über 4000 Jahre später entstanden als die in Sachsen und am Bodensee gefundenen Objekte, die eine viel frühere kulturelle Auseinandersetzung mit der Sexualität der damaligen Menschen nahelegen, als die Anthropologie bislang gedacht hat. Entsprechend aufgeregt ist seitdem die Diskussion, welche Funktion die gefundenen Gegenstände damals wohl gehabt hätten. Von "Fetischen" oder "Spielzeug" ist die Rede. Vielleicht sei es "schick" gewesen, solche Skulpturen in den "Häusern der ersten Bauern zwischen Saale und Elbe aufzustellen", spekuliert das Fachblatt "Archäo". Die Forscher sprechen von "Fruchtbarkeitskult" - was aber ungenau und schwammig klingt. Die Figuren fanden sich außerdem zumindest in Sachsen auf dem Müllhaufen, nicht in irgendwelchen Tempel- oder Kultstätten. War der dortige, urzeitliche Künstler mit seinen Anfertigungen einfach nicht zufrieden gewesen und hat sie auf den Hausmüll geworfen?


Wie trieben es unsere Urahnen wirklich?


Die wissenschaftliche Ungenauigkeit an dieser Stelle ist typisch. Wenn es ums geheime, intime Liebesleben geht, stockt der Fachwelt der Gedankenfluss. Allzu lang sei das Sozialverhalten der frühen Menschen "vernachlässigt" worden, klagt auch die Historikerin Angelika Dierichs aus Münster. Wann schämte sich der erste Mensch? Wer erfand das Inzestverbot und die Einehe? Schliefen bei den Neandertalern Oma, Vater und Tochter alle gemeinsam in der Grashütte? Was verbirgt der (Erinnerungs-)Nebel, der sich um die urzeitliche Bettstatt von Adam und Eva legt? Wer diese Fragen beantworten könnte, besäße einen ersten sozialpsychologischen Schlüssel, um das Tor ins Lebensreich jener Urzeit aufzustoßen.

Ebenso spektakulär wie die Erotikfigur aus Sachsen ist ein Fund vom Bodensee. Dort wurde ein Tempel entdeckt, aus dessen Wänden einst üppige Lehmbrüste herausquollen. Das von Archäologen in Ludwigshafen zutage geförderte "Kulthaus" ist fast 6000 Jahre alt. "Der Sex ist so alt wie der Mensch. Wir sind der lebende Beweis dafür", sagt der Dresdner Archäologe Christian Gliwitzky, Kurator der Wanderausstellung "100 000 Jahre Sex", die seit 2005 durch die Republik prominiert. "Als der Homo sapiens Europa eroberte, entstanden die ersten erotischen Gegenstände - zunächst Frauenstatuetten mit üppigen Brüsten und nicht minder ausladenden Hüften..." Zu dieser ersten umfassenden Bestandsaufnahme der ganz frühen und altertümlichen Zeugnisse erotischer Kultur gehören unter anderem 35.000 Jahre alte Phallusstäbe aus Afrika, Reizwäsche aus der Bronzezeit, üppige Mutterfiguren, deftige Fresken aus Athen, oder leidenschaftliche Liebesgedichte aus römischen Hurenhäusern, bis hin zu mittelalterlichen Stoffkondomen, die in Milch getaucht wurden.


Homo Erectus oder Homo Interruptus


Wie sind solche Funde von Zeugnissen uralter erotischer Kunst zu interpretieren? Aufgrund der neuen Entdeckungen ist ein alter Zwist wieder entfacht. Zwei Lager streiten um ein grundsätzliches Problem. Die Frage lautet: Lebten unsere Vorfahren locker, ungeniert und ungehemmt - wie die Bonobos? Oder war in der Urwelt Askese angesagt, wie es die Beschreibungen des Alten Testaments eher nahelegen würden?

Soziobiologen unterstellen den frühen Hominiden eindeutig promiske Wurzeln. Liebestoll seien sie damals durch die Flora gesprungen, nur dem genetischen Diktat ihrer überschießender Hormone folgend. Die intellektuelle Fraktion der "Tabuisten" dagegen nimmt an, dass bereits auf den Urmenschen ein strenges System aus Triebverzicht und Enthaltsamkeit lastete - kein Spaß also im Neandertal. Welten treffen da aufeinander. In dem einen Szenario wird gerammelt und geschleckt; die Steinzeit-Frauen, wie die US-Anthropologin Helen Fisher meint, "schlugen sich ständig mit anderen Partnern in die Büsche" - im gegenteiligen, patriarchalen Szenario aus der Bibel dagegen herrscht die meiste Zeit über tote Hose und Sanktionsdrohung.


Penetranz oder Stimulanz


Der sächsische Sexprotz und die Lehmbrüste vom Bodensee lassen sich denn auch völlig unterschiedlich deuten. Für die Tabuisten gehörten diese Kunstwerke zu streng reglementierten Fruchtbarkeitskulten. Die Soziobiologen hingegen sehen in ihnen einen Beweis dafür, dass die frühen Ackerbauern Tag und Nacht nur das eine im Kopf hatten und es folglich nach Lust und Laune miteinander trieben. Oder die altsteinzeitlichen Phallusstäbe? Waren das Dildos zum lustvollen Einführen und Stimulieren der prähistorischen Bräute? Oder doch eher religiöse Werkzeuge, mit denen einst die Mädchen der Eiszeit rituell entjungfert wurden?

Immerhin kann sich die Tabu-Fraktion auf große Vordenker stützen. Schon Charles Darwin nahm an, dass die Menschen einst in "kleinen Horden" lebten, geleitet von Anführern, die alle Frauen bewachten. "Nach allem, was wir von der Eifersucht wissen", schrieb er, "ist eine allgemeine Vermischung der Geschlechter im Naturzustand äußerst unwahrscheinlich". Statt Lust und Erotik, so Darwins Vermutung, tobte in der Altsteinzeit ein Dauerstreit. Die stärksten Macker legten sich einen Harem zu. Wer leer ausging, machte auf schwul oder begann wie ein frustrierter Bonobo zu onanieren. Oder er sann auf Rache und ermordete den Anführer.


Totem und Tabu


Um permanenten Unfrieden zu stoppen und überhaupt erst im sozialen Verband leben zu können, glaubte auch der Psychoanalytiker Sigmund Freud, habe sich der hin zur größeren Gemeinschaft entwickelnde Mensch das älteste Sittengesetz der Welt ersonnen: den Totemismus und das Tabu. Der Totem verkörpert die alleinige Macht des Häuptlings und das Tabu das Verbot es ihm gleichzutun. Dieses System sorgte zwar für Ruhe und Ordnung. Zugleich aber bürdete es dem Einzelnen einen horriblen Triebverzicht auf. Tatsächlich lebten noch im 19. Jahrhundert Naturvölker in Afrika und Australien in totemistischen Gemeinschaften. Sie begegneten sich scheu und schamhaft. In einigen Stämmen durfte der Bruder nicht einmal die Schwester beim Namen nennen und sie zu berühren war ihm bei drakonischer Strafe verboten. Eine Heirat innerhalb des Dorfes war nahezu unmöglich.

Die Tabuisten sind sicher: Bei ungebremster Gier und Wollust wäre der Mensch nie zur Krone der Schöpfung aufgestiegen. Nur im Ritus an wenigen, besonderen Tagen des Jahres, bei Fruchtbarkeits- und Hochzeitsfesten sei der rauschhafte Durchbruch der Sinne erfolgt. In leidenschaftlichen Orgien und Gelagen schufen sich die Clans ein Ventil für den im Alltag angestauten sexuellen Überdruck, der im Lauf der Zivilisation immer weiter anwuchs. Die wahren Kulturleistungen habe der reife Mensch jedoch erst im Verzicht auf seine polymorph-perverse Triebhaftigkeit geschaffen - durch eine Sublimierung seine Sexualenergie, das heißt, durch die Abwandlung seiner Triebenergie in eine Richtung kulturell und zivilisatorisch sinnvoller, nützlicher Tätigkeiten.


Abtreibung und Kindstötung


Wie sich dieser Weg vom Tier zum schamhaften Menschen im Detail vollzog, ist indes umstritten. Schon der Homo erectus baute vor 370.000 Jahren kleine Grashütten, mit Platz für vier bis acht Personen. Für Intimität war da kein Platz. Wie also half sich der geil erigierte Homo Erectus? Bat er seine Frau zum Schäferstündchen zwischendurch, wenn die anderen im Wald Beeren sammelten? Oder stöhnte das Liebespaar nachts ihren Mitbewohnern die Ohren voll? "Schon vor 40.000 Jahren gab es strenge Sexualgebote", glaubt zumindest der Berliner Ur- und Frühgeschichtler Svend Hansen. "Hohe Geburtenraten waren unter wildbeuterischen Lebensbedingungen nicht willkommen."

Der Grund: In Gruppen von 15 bis 30 Personen zogen die fellbewehrten Steinzeit-Jäger durchs Biotop. Jedes Baby war ein gefährlicher Ballast. Schwer lag es auf dem Rücken der Mutter. Deshalb mussten die Nomaden die Fruchtbarkeit eindämmen. Neben "pflanzlichen Verhütungsmitteln und einem Verbot des Geschlechtsverkehrs durch Tabus", so Hansen, habe man auch zu blutigen Mitteln wie Abtreibung und Kindstötung gegriffen.


Kunst und Kultur


Ergebnis: Die Bevölkerung blieb über Jahrzehntausende stabil und Revierstreitereien mit den Nachbarclans blieben die Ausnahme. Dass die Urmenschen dem Eros dennoch einen hohen Stellenwert einräumten, leugnen auch die Tabuisten nicht. Aber statt sich ständig zu begatten, so ihre Ansicht, hätten die Geröllheimer ihr geschlechtliches Verlangen eben gezügelt, "sublimiert" und zu Kunst umgeformt.

Für die Sublimierungs-Annahme liegen jetzt weitere Indizien vor: Es geht um diese berühmten drallen Weibsbilder aus dem Lande Feuerstein, die "Venus-Statuetten", die überall in Europa gefunden wurden. Die 2009 auf der Schwäbischen Alb gefundene "Venus vom Hohe Fels" gilt mit ihrem Alter von ca. 40.000 Jahren als Prototyp und älteste derartige Figur. Wurde der Venus-Kult hierzulande also begründet von jenen Urmenschen, wie sie aus dem heißen Afrika kommend ins kalte Europa vordringend, kaum auf dem Kontinent angekommen, schnell ihren Sexualtrieb zügelten und sublimierten, indem sie neben Schmuck und erster Mode auch die erotische Bildhauerei erfanden und plötzlich bereit schienen, ihren Narzissmus und ihre  Kunstfertigkeit fortan in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen?


Verliebte Steinmetze


Matthias Schulz beschreibt die Epoche in seinem Essay in "100.000 Jahre Sex - Liebe und Erotik in der Geschichte" folgendermaßen:
 
"Liebestollen Steinmetzen gleich begannen die Männer zu klopfen und zu hämmern. Über zweihundert Venus-Statuetten sind bekannt - allesamt adipöse Schönheiten mit Körbchengröße DD und Speckhüften. Manche tragen Armbänder oder Gürtel, was ihre Nacktheit noch zu steigern scheint. Lange Zeit galten die Statuen als Pin-up-Girls. "Rohe animalische Wollust" hätten die Künstler wecken wollen, befand auch der Prähistoriker Rudolf Feustel. Eine der Figuren wurde demgemäß sogar als SM-Sklavin gedeutet. Sie trägt Armbänder, die wie Fesseln aussehen."

Den als Soziobiologen bezeichneten passen solche frivolen Hinweise natürlich gut in den Kram. Sie nehmen die Skulpturen als Beleg, dass es einst nämlich ganz schön zügellos am Lagerfeuer zuging. Eine Projektion ihres Wunschdenkens? Wurden die rubens-artigen Figurinen tatsächlich auch in pornografischer Absicht gefertigt, wie manche meinen? Die meisten Untersuchungen legen indes nahe, dass die dargestellten Frauen des Paläolithikums nicht einfach nur propper oder wollüstig waren, sondern vor allem schwanger. Die Venus von Monpazier in Frankreich hat eine geöffnete Vulva. Bei einer anderen ist der Bauch nach unten gewölbt, im Schoß steckt ein Zapfen - der Moment der Geburt.


Fruchtbarkeit und Schwangerschaft


Statt geil zu wirken, dienten die Statuetten vor allem als Objekte der Verehrung. Es waren Ur-Mamas, Symbole der Fruchtbarkeit und Schöpferinnen des Lebens. Detailgetreu sind die Damen geformt, einige haben Schamhaare, Locken und einen großen Bauchnabel - Meisterwerke aus der Eiszeit. Gleichwohl beruht das Kult der Schwangerschaft, den die Männer des Gravettien - der wichtigsten, archäologischen Kultur des mittleren Jungpaläolithikums in Europa, vor 33.000 bis 25.000 Jahren - zelebrierten, vielleicht nur auf einer gewissen Naivität. Die Kerle hätten schlicht "die biologische Funktion des Sex nicht verstanden", glaubt jedenfalls die Kulturanthropologin Jill Cook vom British Museum in London.

Erstaunt beäugten die Herren des Keulenzeitalters den weiblichen Leib, der zuweilen anschwoll wie der Mond, bis dem Schoß ein kleiner Schreihals entstieg. Was für ein Wunder! Sie selbst schienen an dem Vorgang keine Anteil zu haben. Entsprechend groß, so Cook, war deshalb die Ehrfurcht vor den Müttern. Ob dabei gleich von einem Matriarchat gesprochen werden könnte, mag sie aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Mit Lüsternheit jedenfalls habe all das, ihrer Meinung nach, wenig zu tun gehabt. Den Männern jener Steinzeit schien dann offenbar doch langsam klar geworden zu sein, dass ihre Beteiligung an dem Geburtsvorgang wohl größer sein musste, als sie bislang vermutet hatten. Vor etwa 20.000 Jahren jedenfalls brach der Venus-Kult ab und der Phallus tauchte in den ersten prähistorischen Kunstwerken auf.

 

Quelle:
Vincent van Vilsteren, Rainer-Maria Weiss (Hrsg.) - "100.000 Jahre Sex - Liebe und Erotik in der Geschichte", Theiss-Verlag Stuttgart 2004.

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