Grelles - Weiblichkeit, Selbstbekenntnis, Intimität in der heutigen Kunst

09.04.2013 20:41

Cindy Sherman - Untitled 1989

Die schonungslose Zurschaustellung der eigenen Persönlichkeit in all ihrer Blöße, Intimität und Empfindsamkeit ist vor allem im Fahrwasser von Expressionismus und Existenzialismus/Realismus groß geworden. Während sich in den 60er-Jahren mit Fluxus und Happening aktionistische, performative Kunstformen entwickelten und sich der künstlerische Diskurs um Fragen nach Authentizität, Konzept, Identität und Inszenierung drehte, verkündeten Philosophen und Kulturkritiker wie Michel Foucault oder Roland Barthes das Ende der Geschichte, den Tod des Subjekts. Joseph Beuys dagegen, Hauptprotagonist einer radikalen, subjektorientierten Kunstauffassung, sollte später resümieren "Jeder Mensch ist ein Künstler" und der heutigen Kunstepoche damit ihren Segen erteilen. Die Wiener Aktionisten um Otto Mühl und Hermann Nietsch wiederum zelebrierten in ihren Kunst-Kommunen quasi religiös-schamanistische Rituale mit viel Schweineblut und Orgiencharakter. Mit dem Ruf Wilhelm Reichs nach der 'Orgasmusfähigkeit der Massen' begründete die Nachkriegsgeneration, jene jungen Studenten und Hippies dann mit "Love, Peace & Happiness" ihre wahrhaft revolutionäre Massenbewegung, mit dem freudigen, unbändigen Drang nach individueller und sexueller Freiheit.

 

Frei fickende Skandinavierinnen und sexpositiver Feminismus

Die neue sexuelle Freizügigkeit exponierte sich ab den 70ern vor allem in der Filmbranche. Die experimentelle Krimi-, Social-Beat- und Pulp-Fiction-Szene in Amerika wurde erobert durch skandinavische Pornofilme, die oft low Budget in freizügigen Hippiekommunen gedreht wurden, wie z.B. die Filme des Kultregisseurs Lasse Braun oder im frühen PornChic eines Films wie "Beichte eines Porno-Mädchens ("Sonja - 16år", Dän. 1969). Punks und New Primitives sollten dann später Gefallen an eher grenzwertiger, abseitiger Selbsterfahrung und Erkenntnis finden, durch extremen Körpereinsatz und die Beschäftigung mit Rausch, Trance, Schmerz und Initiation. Daneben entstand eine breite Homosexuellen-Bewegung innerhalb der Kunstszene, welche die Liberalisierung der Sexualität und der verschiedenen Geschlechtsidentitäten weiter voran trieb. Darüber hinaus entwickelte sich ein speziell feministischer Kunstdiskurs, der durch die Arbeiten von Cindy Sherman, Louise Bourgeois, Chantal Akermann, Valie Export, Yoko Ono etc. gekennzeichnet ist. Der "sex-positive Feminismus" aus den 90ern, der mittlerweile nicht nur durch die Vergabe eines europäischen und eines kanadischen Feminin Porn Awards geadelt wird, Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne wurde nicht nur durch Pop-Art markiert, sondern besonders durch den feministischen, weiblichen Blick auf die Dinge und Menschen.


Während die Kunst der Moderne sich meist noch im Rahmen von Akademien, Kunstrichtungen und klassischen Sujets abspielte, definiert sich die Postmoderne zunehmend durch den geschlechtsspezifischen, narzisstischen, mithin homosexuellen Diskurs. Der spezifisch weibliche Blick, den nicht nur Feministinnen immer selbstbewusster in der Kunst einforderten, und der sich nicht zuletzt durch eine gewisse Selbstoffenbarung bzw. Entblößung im Sinne eines 'Seelenstriptease' ausdrückt, fordert meist ein intensives Einlassen auf Präsenz und Person der Künstlerin. Als 2009/2010 das Centre George Pompidou in Paris unter dem Titel "ELLES" der Geschichte der weiblichen Kunst des 20. Jahrhunderts huldigte, waren in jener atemberaubenden Schau auf über 5000qm, mit über 200 Künstlerinnen, mehr als 500 Werken seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen.

Wilden, wirre Frauen mit wallenden Haaren

Der erste Eindruck, der im Angesicht der quitsch-bunten Vielfalt auf das Publikum einwirkte, schien Besuchern zufolge vor allem zu sein, dass Kunst von Frauen schrill, erotisch und aggressiv sei. Schon im Foyer des Centre Pompidou empfingen sie Porträts von wilden, wirren Frauen mit wallenden Haaren, die voluminösen, bunten NaNas und die feministische Schießscheibe der Niki de Saint Phalle, die Mensch-Material-Chimären von Rebecca Horn, das berühmte Selbstporträt von Valie Export, mit offener Scham und Maschinenpistole im Arm, oder der Fotoautomat der Französin Orlan, der 1977 fünf Franc für einen Künstlerinnenkuss berechnete. Der ist heute sicher hunderte Mal so viel wert - aber so kam über dreissig Jahre später dann endlich auch die besondere weibliche Subversion und ihr Witz zu musealen Ehren.Das schien in den sechziger und siebziger Jahren noch fast undenkbar, nur unter lautem Protestgeschrei und gegen männliche Vorurteile konnte weibliche Kunst dich durchsetzen. Dieser künstlerische Affront, mit dem sich die Künstlerinnen Jahrzente lang auseinander setzen mussten, war vielleicht der Grund, warum die Pionierinnen der künstlerischen Moderne wie Frida Kahlo, Sonia Delaunay oder Germaine Richier im Cente Pompidou, abgeschieden von ihren Nachfolgerinnen, in von der Hauptausstellung getrennten Räumen hingen, einen Stock höher, bei der ständigen Sammlung mit Werken ihrer männlichen Kollegen.

Die zeitgenössische, weibliche Kunst entwickelte sowohl thematisch als auch formal größte Multimedialität sowie Neugier gegenüber den psychologischen Aspekten des Lebens. Lebensgroße „Puppen“ waren immer wieder zu sehen wie bei den raumgreifenden Stofftier- und Puppeninstallationen der Französin Annette Messager, aber auch meditativ ziselierte Möbel von Eileen Gray, der Meisterin der Lackkunst aus der Bauhaus-Zeit. Neben Cristina Iglesias und Tacita Dean stieß mensch auch auf die in Köln lebende Künstlerin Rosemarie Trockel, die mit ihren ungewöhnlichen, maschinengestrickten Wollbildern international bekannt wurde. Ein Kunstwerk, das das Problem der Anerkennung der Frau als Künstlerin hätte nicht aussagekräftiger auf den Punkt bringen können, war das riesige Plakat der Guerilla Girls, auf dem zu lesen war: „Weniger als 5 Prozent der Künstler im Metropolitan Museum sind Frauen, aber 85 Prozent der Aktmodelle sind weiblich. Müssen Frauen nackt sein, um ins Museum zu kommen?“ Auf dem 1989 entworfenen Plakat war außerdem Ingres berühmtes Gemälde „Große Odaliske“ abgebildet, ein weiblicher Rückenakt, aber dort mit einem Gorillakopf verziert.

Kunst von Frauen ist nicht hübsch und dekorativ

„Man glaubt, Kunst von Frauen sei feminin, hübsch und dekorativ. Unsere Ausstellung zeigt das Gegenteil, unter anderem weil Künstlerinnen oft freier und unabhängiger von modischen Strömungen arbeiteten“, meinte dazu die Kuratorin Camille Morineau. Die Kunst der letzten 40 Jahre wurde also von der weiblichen Peripherie her aufgerollt. Von den Provokationen der Guerilla Girls zu konzeptuellen Skulpturen à la Rachel Whiteread, von der Ornamentik m Marthe Wérys zum existentiellen Zweifel einer Louise Bourgeois oder zur selbstbefragenden Körperkunst von Gina Pane, Carolee Schneemann oder Marina Abramovic. Immer wieder spiegeln sich in den Werken jüngerer Künstlerinnen die bahnbrechenden Arbeiten der sechziger Jahre, so bei den Filminstallationen von Dominique Gonzalez-Foerster, Pipilotti Rist oder Tacita Dean, oder bei den Stills und inszenierten Identitäten, die bei Cindy Sherman und Annie Sprinkle zu sehen sind.

Zur besseren Orientierung war die Ausstellung in Paris in aussagekräftige Kapitel gegliedert, die sehr gut den typisch sensibel-intimen, weiblichen Blick widerspiegeln: "Feuer frei" hieß das erste Kapitel der Ausstellung, es gab "Genitalpanik", "Verletzungen" oder "Zimmer für sich". Bei den vielen Installationen bspw. von Tatiana Trouvé, Louise Nevelson, Sophie Calle oder Mona Hatoum ging es meist um Verletzung und Heilung, um Kränkung oder Transformation, um Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Es gab Freiräume am Rande des männlich dominierten Betriebes, ebenso kleinen Fluchten aus Selbstliebe und Erotik, aber dann wieder die viel zu lang erduldete Scham und Scheu der unterdrückten Frauen, konterkariert vom femininen Selbstbewusstsein und der weiblichen Dominanz, die nun ihren prägnanten, selbstbewussten Platz in der modernen Kunstgeschichte einnehmen werden.

Schamfreie Zeiten nicht nur für weibliche Kunst

Unter dem Titel "Schamfreie Zeiten" zeigte 2010 die vom neuen feministischen Blick beeinflusste Kunst- Talentshow "Greater New York", wie nah Kunst am wirklichen Leben dran sein kann oder wie am besten das Leben gleich generell zur Kunst erklärt wird. Sexualität, Selbstbildnisse und die eigene Identität waren die Hauptthemen dieser Ausstellung, die dabei tief in die Privatsphäre der Protagonisten vor drang. Liz Magic Laser z.B. entfernte und pflückte in ihrem Video "Mine" mit mechanischem, chirurgischem Werkzeug den Inhalt einer Handtasche auseinander. Die Prozedur stellt das Verletzen der Intimsphäre dar, erzählt von einer enthemmten Unterhaltungsgesellschaft, in der nichts mehr geheim bleibt, und lässt einen obendrein an die Arbeit von Bombenfahndern denken, die nach Sprengstoff suchen. Das Endergebnis, die sezierte Tasche, präsentierte die Künstlerin in einer Glasvitrine zusammen mit den darin befindlichen Nacktfotos, Star-Bildern und Liebesbriefen.

In der nicht nur auf Frauen beschränkten Schau legte sich der Künstler und Fotograf Leigh Ledare selbst bloß mit Nacktfotos und Familienfilmen, mit denen er die erotische Beziehung zu seiner Mutter dokumentierte. K8 Hardy, Mitbegründerin des lesbisch-feministischen Kollektivs LTTR, zeigte in Anlehnung an Cindy Sherman ihre "Best Friends". Deana Lawson füllte die Ecke eines Ausstellungsraumes mit Schnappschüssen und Star-Bildern, so dass mensch das Gefühl hatte, das Jugendzimmer eines Teenagers zu betreten. Die Künstlerin A.L. Steiner tapezierte die Wände mit Fotos, die das lesbische Liebesleben in all seiner Nacktheit zeigten. Hank Thomas Willis analysierte mit der Serie "Unbranded" auf 40 Fotos das tragisch-komische Bild, mit dem farbige Amerikaner seit 1960 bis heute in Werbung, Film und Modeindustrie porträtiert werden.

Sharon Hayes wiederum ließ auf politischen Protestveranstaltungen Liebesbriefe verlesen – statt für das Allgemeinwohl wurde jedoch für das Recht auf privates Glück demonstriert. Und Performance- und Videokünstler Ryan McNamara gab sich die Blöße, sich für die Dauer der bis Oktober laufenden Ausstellung in einem mobilen Tanzstudio von professionellen Tänzern unterrichten zu lassen. "Make Ryan a Dancer" nannte er sein rührend selbstverliebtes Projekt. Die junge New Yorker Künstlergeneration, mittlerweile stark beeinflusst von der feministischen Revolution aus Introspektion, Selbsterfahrung und intimer Offenbarung in der Kunst, schämt sich für keine Geste, für kein Gefühl mehr.

 

tl_files/liebreiz/bilder/allgemein/valie export - genital panik 1977.jpg tl_files/liebreiz/bilder/allgemein/Louise Bourgois - Seven-in-Bed 2001.jpg

Zurück